Code or die - Warum wir mehr Hacker brauchen

Code or die - Warum wir mehr Hacker brauchen

 

Code or die - das Cover zu meinem neuen Buch, das sich für die Stärkung der digitalen Kompetenzen der Bevölkerung einsetzt. 

Die Forderung ist klar: Wir haben genug Menschen, die von Digitalisierung reden, aber wir brauchen mehr, die sie verstehen und beherrschen. 

Ein Manifest für mehr digitale Selbstbestimmung.

Eine Vorschau ... 

 

 

Vorwort



Ich weiß nicht, wie es ihnen ergeht, aber der Alltag vieler Menschen in meinem Umfeld ist fest in digitaler Hand. Mich hingegen nimmt man schon mal auf den Arm, wenn ich eine Nachricht in eine dieser Mes­senger-Gruppen absetze, wo ich selten Gast bin. Doch selbst im sozialen Raum kann man sich kaum solchen Entwicklungen entziehen. Ich ernte gelegentlich mitleidige Blicke, weil das Handy zu Hause liegengeblieben ist und ich den Eintrittscode für das Badminton-Center – auch hier geht ohne di­gitale Hilfsmittel kaum noch etwas – nicht zur Hand habe. In die­sem konkreten Kontext wird es dann auch noch so richtig „pein­lich“: Ich muss mich auf die Suche nach richtigen Menschen be­geben, die mir Zutritt gewähren. Dabei kann ich ohne mein Han­dy nicht einmal nachweisen, dass ich Platz 1 für Sonntagnachmit­tag reserviert hatte. Aber es kommt noch „schlimmer“: Selbst der Getränkeautomat funktioniert nur noch digital. Handy dranhal­ten und schon purzelt das Wunschgetränke aus der Kiste.


Im Zeitalter der Digitalisierung hat ein Großteil der Bevölkerung sein Leben bei den Digitalriesen abgegeben. Es erinnert mich an einen Theater- oder Opernbesuch: Man gibt es einfach an der Garderobe ab und bezahlt. Die Währung heißt längst nicht mehr Euro. Nein, sie heißt Daten. Vor einigen Jahren war die Einführung ei­ner Krankenversicherung durch einen Digitalriesen im Ge­spräch. Man muss heute froh sein, dass das zumindest in Euro­pa nicht kommt.


Doch zurück zu meinem privaten Umfeld. Die technikgläubigen Jünger von Bezos & Co. greifen in allen Lebenslagen zum Smart­phone und der scheinbar passenden Apps. Selbst fürs Yoga und Meditieren kommen Apps zum Einsatz. Auch der Schlaf soll mit Smartphone und App besser werden. Dabei sagt mein Men­schenverstand anders: Außerdem einem Wecker und einem lieben Menschen braucht man nichts Digitales oder Elektronisches im Schlafzimmer – vielleicht noch ein Buch.


Dinosaurier wie ich, die an einem hundsgewöhnlichen PC mit Monitor, Tastatur und Maus sitzen, scheint es vielfach nur noch in verstaubten deutschen Amtsstuben zu geben – so zumindest mein Eindruck. Ich fahre morgens den PC hoch und je nachdem, wie der Tag läuft, am Abend wieder herunter. Dazwischen gibt es jede Menge digitalfreie Zeit. Das Mittagessen mit der Familie oder Freunden, das Nickerchen mit vollem Bauch, und, und, und. Wenn ich privat unterwegs bin, bleibt das Handy entweder zu Hause oder im Auto liegen. Ich filme auch keine Konzerte, sondern konzentriere mich auf das Erlebnis. Ich lasse inzwi­schen auch beim Laufen das Handy zu Hause, weil ich gemerkt habe, dass ich mich ohne irgendwelche Berieselung hinterher besser fühle. Ich konzentriere mich bei Laufen auf meinen Kör­per und die Natur. Manchmal lasse ich die Gedanken schweifen, ein anderes Mal widme ich mich einem konkreten Problem. Davon profitiere ich weit mehr. Und da meine Strecke durch den Wald immer die gleiche ist, ist auch nicht mit überraschenden Werten in der Fitness-App zu rechnen. Mir drängt sich das Ge­fühl auf, dass auch andere davon profitieren könnten, ihr Digitalverhalten zu hinterfragen.


Nun, die Entwicklung ist nicht aufzuhalten. Im Gegenteil. Und im Grunde ist das auch gut so, weil sich vieles vereinfacht. Mir liegt Technikbashing fern. Ich bin großer Fan. Sonst hätte ich nicht vor 30 Jahren das erste deutschsprachige Buch zum World Wide Web geschrieben. Ja, Sie lesen richtig :-). Ich nutze das Internet seit über 35 Jahren. Zu Zeiten, in denen Sam Altman (Open AI) & Co. noch oder nicht einmal im Sandkasten spielten.


Dass sich eine derartige Entwicklung vollziehen würde, hätte da­mals niemand für möglich gehalten. Doch angesichts der weit­reichenden Durchdringung moderner Lebenswelten von Digital­technologien müssen wir uns fragen, ob wir sie beherrschen – oder sie uns.


Während mich mein Umfeld schon mal auf die Schippe nimmt, weil das Nachrichtentippen so lange wie das Schreiben eines analogen Briefs dauert, unterliegen sie dem irrigen Glauben, die Technik zu beherrschen. Sie schließen aus ihren rasanten Tippfertigkeiten und der Kenntnis von App X, Y oder Z, dass sie verstehen, was sie da machen. Doch weit ge­fehlt. Sie wissen weder, wie die Daten von A nach B kommen, noch wie drahtlose Netzwerke funktionieren. Ganz zu schweigen davon, dass sie eine Vorstellung davon hätten, was Transmission Control Protokoll, Internet Message Access Protocol, Hypertext Transfer Protocol oder eXtensible Messaging and Presence Pro­tocol sind.


Nun könnte man einwenden, dass man auch nicht wissen muss, woher der Strom oder wie das Bild in den Fernseher kommt. Der Einwand ist durchaus berechtigt, hinkt aber bei näherer Betrach­tung. Er hinkt aus verschiedenerlei Gründen. Der Stromabneh­mer verrät dem Netzbetreiber nicht zwingend, wie der Strom konsumiert wird. Auch der traditionelle Fernseher gibt nur einge­schränkt preis, was die Vorlieben des Nutzers sind. Natürlich: Es gibt immer mehr Haushaltsgeräte, die das tun …


Und genau da wären wir bei dem Problem. Wie soll ich feststel­len, was mein Konsum über mich verrät? Wie weit möch­te ich diese Informationen preisgeben? Wo ergeben sich Sicher­heitslücken und Informationsquellen, die von Dritten angezapft werden? Fragen über Fragen, zu denen die meisten Bürger keine Antwort haben.


Viele haben nur ein stark eingeschränktes Bild. Anders bei mir: Ich kenne nicht nur die oben genannten Protokolle dem Namen nach, sondern ich weiß, wie sie funktionieren. Ich weiß, wie man einen PC hackt oder den Smartphone-Traffic abhört und entsch­lüsselt. Ich weiß auch, wie man den Router eines Nachbarn aus der Ferne lahmlegt, wenn er mal wieder nachts ohne Unterlass lauthals zockt. Ich weiß auch, wie ich die auf meine Terrasse ge­richtete WLAN-Kamera meines Nachbarn ausschalte, ohne das Haus zu verlassen.


Damit ich nicht missverstanden werde: Dass ich es weiß, wie all das in der Praxis funktioniert, ist nicht gleich­bedeutend, dass ich meine Zeit damit verbringe. Gleichwohl ist es ungemein hilfreich im Einordnen von potenziellen Gefahren. Es ist hilfreich, die Technik dort einzusetzen, wo der gesunde Menschenverstand einem sagt, dass es sinnvoll ist. Das Smart­phone ist in vielen Lebenslagen ein nützlicher Helfer. Doch mein Eindruck ist, dass für viele ein Leben ohne kaum mehr vorstell­bar ist. Eine Smartphone zum Meditieren? Ist es denkbbar, dass ein Jen- oder Shaolin-Meister dies tut? Meditieren fokussiert zu­nächst die Atmung und die eigenen Gedanken. Wie konnten nur Millionen Meditierende ohne ein Digitalgerät auskommen?


Ironie aus. Die Vorboten der fatalen sozialen Folgen des unge­bremsten Medienkonsums sind schon heute an den Grundschu­len und weiterführenden Schulen wahrzunehmen. Die Diskussi­on um das Handyverbot ist ein erster Schritt. Ich bin nicht sicher, ob es der richtige Weg ist. Wenn man mir als Teenager verboten hatte, über die Stränge zu schlagen, hat das nur Gegenteiliges bewirkt.


Aber wir brauchen ein durchgängiges Verständnis der Technologie - von jung bis alt. Sonst droht uns, dass die ökono­mischen Interessen der US-amerikanischen Digitalkonzer­ne weiter in unser Leben vordringen und unser Leben maßgeblich beeinflussen. Prot­agonisten wie Musk und Thiel lassen keine Zweifel auf­kommen, wohin die Reise gehen soll.


Da wir uns kaum der Digitalisierung verschließen wollen und können, müssen wir lernen, sie zu beherrschen. Wir müssen aber nicht nur die Technik beherrschen, sondern auch die Digitalkon­zerne in ihre Schranken weisen. Anders formuliert: Wer nicht un­ter die „digitalen“ Räder kommen will, muss ein fundiertes Ver­ständnis für die Digitalisierung entwickeln. In Anlehnung an das Motto „Friss oder stirb“ erscheint mir daher der Titel „Code or die“ für dieses Büchlein zugespitzt, aber treffend. Das bedeutetet nicht, dass man im Assembler mit anderen ande­ren kommunizieren oder Text in Echtzeit im Binärcode von sich geben kann – auch wenn es nicht schadet, wenn man derlei Fä­higkeiten entwickelt.


Es ist an der Zeit, dass nicht nur alle von Digitalisierung reden, sondern auch verstehen, was diese Technik leistet und wie sie un­seren Alltag beeinflusst. Wenn ich einen Wunsch frei hätte, wür­de ich mir wünschen, dass bereits an den Grundschulen entspre­chende Kompetenzen vermittelt werden. Das würde uns davon verschonen, dass Politiker und andere von Digitalisierung reden, aber im Grunde überhaupt nicht verstanden haben, was das ist. Es würde uns davor verschonen, dass Bildungsminister die Ta­blet-Einführung an Grundschulen vorantreiben und sich dann brüsten, dass sie die Lehre digitalisiert hätten. Dabei hätten Schulen ausreichend „analoge“ Probleme zu meistern, statt neue zu schaffen. Doch der politische Wille deckt vieles zu – selbst gravierende gesamtgesellschaftliche Herausforderungen.


Es würde uns davor verschonen, dass Gesundheitspolitiker und andere Prot­agonisten die elektronischen Gesundheitsakte (ePA) für Millionen Pati­enten einführen, obwohl bekannt ist, dass sie nicht sicher ist. Die Einführung unsicherer Digitalservices könnte verhindert werden, bis sie sicher ist. Schlimmer noch: Einflussreiche Akteure treiben die Einführung eines solchen Instruments voran, ohne es selbst zu nutzen. Eigentlich ein Skandal – doch dazu später mehr. Ich bin nicht grundsätzlich gegen die ePA, aber es Aufgabe des Staates, dies im Sinne des Gemeinwohls zu gestalten.


In diesem Sinne möchte ich einen zweiten Wunsch äußern: Was wir brauchen, sind mündige Bürger, die über ein fundiertes Digital-Know-how verfügen. Da schützt sie einerseits davor, dass man ihnen ein X für ein U vormacht, andererseits sind sie in der Lage, Entwicklungen im digitalen Raum einzuordnen. Kurz: Wir brauchen mehr Hacker. Alleine in der EU rund 450 Millionen.


Und: Es ist an der Zeit den Begriff des Hackers zu entkriminalisieren. Abgesehen von einigen wenigen schwarzen Schafen, agiert er in hohem Maße verantwortungsvoll. Damit ist er Vorbild für alle Nutzer von Digitaltechnologien. Hacker sind die Architekten des Internets – und seine letzte Verteidigungslinie. Doch während ih­re Arbeit unsere Welt schützt, wird ihr Ruf diskreditiert. Dieses Buch ist ein leidenschaftliches Plädoyer für mehr digitale Neugier, kri­tisches Denken und den Mut, Systeme zu hinterfragen. Es zeigt: Wenn wir die Zukunft gestalten wollen, brauchen wir mehr Ha­cker – nicht weniger.

 


Holger Reibold


 

Übrigens: Mein „Zutrittsproblem“ für das Badminton-Center hat eine einfache Lösung gefunden. Ich habe mir die Zugangscodes der Vergangenheit angeschaut und auf ein Muster gehofft. Doch es ist viel einfacher: Der Anbieter versendet immer den gleichen Code. Als zahlenaffinier Menschen merke ich mir einfach die sechs Ziffern. Auch der Getränkeautomat wird nicht benötigt. Ich bin vorbereitet :-).


 


Geplanter Inhalt

1. Einführung

2. Was ist ein Hacker wirklich?

3. Hacker bauen die Welt – nicht Konzerne

4. Hacker schützen sich – und andere

5. Bildung braucht Hackergeist

6. Die Ethik des Hackens

7. Hacker als Kultur

8. Ein Aktionsplan

9. Fazit

 

 

 

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